sehend, nicht sehend – oder beides?
Um einen Einblick zu geben, wie ich die Welt sehe. Dieser Beitrag geht außerdem auf Hilfsmittel und Anerkennung von Blindheit ein.
Die Unterscheidung von sehend oder nicht sehend, ist wieder mal eine der Schubladen, die unsere Gesellschaft zieht. In einer liegen die Sehenden, der Rest liegt in der anderen Schublade.
Was ist mit all den Menschen, die nicht in eine Schublade passen? Da sie noch etwas sehen, passen sie nicht in die Schublade der Nicht-sehenden. Also ist es Zeit keine Einsortierung vorzunehmen.
Meine Erkrankung der Augen führt zum Absterben von Sinneszellen auf der Netzhaut. Zuerst passiert dies mit den hell/dunkel-Zellen, sodass es zu einer ausgeprägten Nachtblindheit führt. Also nachts bin ich dann auch nicht-sehend. Tagsüber kann ich aber noch sehen. Bei wechselnden Lichtverhältnissen mit Blendungen und Schatten komme ich jeweils in die eine oder andere Form des Sehens.
Problematik blind, aber sehend
Sehen passiert im Gehirn. Ein Bild wird durch die Augen aufgenommen und ein Bild entsteht im Gehirn. So kann es sogar sein, dass eine Person nichts sieht, obwohl er anatomisch einen Visus von 1,0 (100 % Sehkraft) hat, und sonst keine Defekte an der Netzhaut hat, aber die Recheneinheit im Gehirn streikt und kann die Sinneseindrücke nicht auswerten.
Bei mir ist es so, dass ich „normal“ sehe, obwohl ich nicht „normal“ sehe. Mein Bild der Umwelt hat keine schwarzen Löcher oder Grauschleier. Unbewusst bewege ich den Augapfel permanent umher, wie ein Chamäleon – Spaß beiseite, um die Bilder zu ergänzen. Für mich sieht daher alles normal aus. Probleme entstehen erst, wenn ich Gegenstände oder anderes übersehe, da mein Bild nicht fehlerfrei ist. Dann habe ich an dieser Stelle nichts gesehen.
Hilfsmittel
Es gibt zahlreiche Hilfsmittel für blinde und seheingeschränkte Personen. Hier folgt eine kleine Auswahl der Hilfsmittel, die ich auch nutze.
1. Blindenlangstock

Um weiter mobil zu sein, nutze ich einen Blindenlangstock. Dieser hat eine sogenannte Rollspitze, die den Boden abrollt und Hindernisse, Kanten und Untergründe abtastet. Die Farbe Weiß ermöglicht i.d.R. gut zu reflektieren und gut sichtbar zu sein. Neuerdings gibt es auch schwarze Stöcke mit Reflexionsfolie, die auch nachts gut sichtbar bleiben.
2. Farberkenner
Mit einem kleinen Gerät, nicht größer als eine Streichholzschachtel, kann ich Farben von z.B. Kleidungsstücken erkennen. Mittels Infrarot-Sensor-Technik erkennt das Gerät das Farbspektrum des Kleidungsstückes oder anderen Gegenstandes und sagt dies akustisch an. Hier ein kleines Beispiel:
Für den Fall des Shoppings kann ich Kopfhörer anschließen. Damit es nicht jeder mitbekommt, dass ich die Farben checke.
3. Elektronische Lupen

Eine elektronische Lupe? Im Prinzip ist dies eine Kamera mit Bildschirm, wie ein Smartphone. In der Tat haben einige Geräte auch eine ähnliche Bauform. Das wesentliche ist der Fokus auf nahe liegende Texte oder ähnliches, und die Möglichkeit die Vergrößerung einzustellen. Ein weiterer Vorteil liegt in der Änderung von Farben und Kontrasten. So lässt sich weißer Untergrund und schwarzer Text, in grüne Schrift und schwarzen Untergrund.
4. Vergrößerungssoftware mit Screenreader

Am Laptop nutze ich eine Software, die alles auf den Bildschirm vergrößert. Allerdings wird der gesamte Bildschirm nicht größer und ich sehe nur einen Ausschnitt von etwa 25 % des normalen Bildschirminhaltes. Hier kann ich auch wieder die Farben anpassen und invertieren, sodass ich schwarzen Hintergrund und kontrastreiche Schrift bzw. Farben sehen kann.
Die Software ermöglicht mittels eines sogenannten Screenreaders den Inhalt des Bildschirmes in Sprache bzw. Braille (Blindenschrift) umzuwandeln. Viele Blinde, die die Sprachausgabe nutzen und geübt im Hören sind, haben die Geschwindigkeit der Wiedergabe auf das 2-3fache eingestellt. Ich selbst nutze auch etwa 1,8-fache der normalen Vorlese-Geschwindigkeit – alles andere ist langwierig und einschläfernd. Für die Darstellung und Umsetzung in Braille (Blindenschrift) wird die Braillezeile benötigt.
5. Braillezeile

Eine Braillezeile stellt jeweils ein Blindenschriftzeichen durch ein Braillemodule bestehend aus 8 Punkten dar. Meine Braillezeile hat 40 Module und kann damit 40 Zeichen darstellen. Es gibt verschiedene Braille-Systeme – Basisschrift, Vollschrift, Kurzschrift und Computerbraille. Außer bei Computerbraille werden nur 6 der 8 Punkte verwendet. Mithilfe der Kurzschrift lassen sich häufig verwendete Silben und Wörter durch maximal 3 Zeichen darstellen und es lässt sich schneller lesen. Durch Computerbraille lassen sich einige Zeichen ebenfalls einsparen z.B. die Großschreibung des Anfangsbuchstaben wird nicht extra vorangestellt, sondern als der 7. Punkt im Modul übernimmt die Funktion. Außerdem benötigt man am PC auch etwas mehr Zeichen als bei reinem Text.
Es gibt diese Braillezeilen mit Eingabetastatur oder ohne. Beide Arten verfügen aber über Cursortasten, um sich über den Bildschirm zu navigieren. Für die Modelle mit Tastatur kann man diese meist auch als mobiles Notizgerät verwenden ohne PC.
6. Kamerasysteme

Bild: Reinecker Vision GmbH
Ein Kameralesesystem ist ähnlich der elektronischen Lupe eine Kamera mit oder ohne Display. Gedacht zum vergrößerten Lesen von Bücher, Dokumenten oder zum Ansehen von anderen Dingen. Ich habe ein Kameralesesystem, welches am PC angeschlossen ist. So kann auch Fotos oder Dokumente speichern. Meine Kamera ist auch für den Fokus im Raum ausgelegt, um zum Beispiel entfernte Tafeln und Präsentationen vergrößert wahrzunehmen. Es gibt auch Systeme, die den erkannten Text auch gleich vorlesen.
Zusammenfassung
Was sicherlich auffällt: Je mehr Hilfsmittel, umso mehr ist möglich. Aber es braucht auch einiges an räumlichen Platz. Die Digitalisierung kann eine Chance sein auch die digitale Inklusion voranzutreiben. Um die Hilfsmittel kompakter, flexibel und einfacher zu machen.
Anerkennung, Selbstwert und Psyche
1. Anerkennung
Nach dem Gesetz kann man sich einen Grad der Behinderung (GdB) anerkennen lassen. Dazu muss ein Antrag bei der Landesbehörde für Gesundheit (Berlin: LaGeSo) gestellt werden. Daraufhin wird ein Anerkennungsverfahren eröffnet und eine Untersuchung bei einem Amtsarzt vorgenommen. Beim Thema Augen wird dies ein niedergelassener Augenarzt sein. Dieser Prüft das Sehvermögen und Gesichtsfeld, schaut sich den Augenhintergrund an und schreibt seine Bewertung auf. Zur Anerkennung muss dieser nach Aktenlage und Untersuchungsergebnisse gehen, dabei spielt in der Regel eine subjektive Bewertung keine Rolle. Allerdings kann dies nicht immer so sein. Die Problematik hatte ich auch, weil ich die Türklinke der Tür noch finde und mich einigermaßen orientieren kann, solle ich noch gut sehen können. Na ja, wenn ich mir merken kann, wie ich hineingekommen bin, finde ich auch wieder heraus. Apropos merken von Dingen. Dadurch, dass man sich anders orientiert und Dinge einprägt, entsteht ein Bild im Kopf.
2. Selbstwertgefühl
Mit einer Diagnose und der Anerkennung von Blindheit ist man erstmal geschockt.
Was bedeutet dies? Warum ich? Wie kann ich damit leben?
Viele Fragen und keine Antworten. Ein günstiger Umstand ist, dass ich die Diagnose Blindheit bereits in der Arbeitserprobung im BFW Halle erfuhr. Daraufhin hatte ich eine Blindentechnische Grundausbildung gemacht. Blindenschrift gelernt und den Umgang am PC blind erarbeitet. Damit bin ich gerüstet für die Zukunft, um die Augen zu schonen und falls ich nichts mehr sehe.
Die Anerkennung für sich selbst ist schwer. Das bedeutet sich auch eine Schwäche einzugestehen. Für mich ist es so, dass ich manchmal Probleme habe es anzuerkennen. Für mich sieht die Welt normal aus. Ich kann sehen und Dinge erkennen. Allerdings gibt es ab und an Probleme beim Erkennen von Texten, Personen und unerwarteten Situationen. Dann merke ich wieder, dass ich blind bin.
Zum Beispiel war ich unheimlich gern Radfahren. Nun ist es nicht mehr möglich, bzw. ich kann es nicht mehr tun. Denn es gab einige brenzlige Situationen vor ein paar Jahren. Mit anderen Radfahrern, Passanten oder Gegenständen, die ich nachts nicht sah. Die Anerkennung, dass ich es hier in Berlin nicht mehr fahren kann kratzt am Selbstwertgefühl enorm.
Beim Sport geht es mir ähnlich. Ich bin noch immer mit Sportkegeln aktiv. Leider ist es so, dass ich Schwierigkeiten habe besser zu werden, da ich den Abwurfpunkt nicht sehe. Dies frustriert und ist nicht gut für den Selbstwert.
Beim Besuch in Clubs und Bars – Was momentan nicht möglich ist. – habe ich Probleme Anschluss zu finden. Da ich nicht sehen kann, ob der Gegenüber eine Reaktion zeigt mit der Mimik. Ich kann auch nicht reagieren, falls mich jemand anlächelt oder so. Falls mich jemand Bekanntes sieht und ich nicht reagiere.
Situationen wie diese fügen dem Ego etliche Dellen hinzu.
3. Psyche
Mit fehlender Anerkennung und mangelnden Selbstwertgefühl bleibt auch die Psyche im negativen Bereich.
Damit es nicht zu einer dauerhaften Depression kommt. Braucht man ein dickes Fell und viel Optimismus.
Ein Fazit
Blind heißt nicht unbedingt blind. Die persönliche und gesellschaftliche Anerkennung ist nicht trivial und ein längerer Prozess. Es gibt sehr viele Hilfsmittel, die oft auf einen Zweck begrenzt sind. Oft auch sehr teuer und benötigen räumlichen Platz.
Die Digitalisierung kann eine gute Chance sein, um die digitale Inklusion voranzubringen. Ich will dabei gern mitwirken und einen Beitrag leisten.
Ich nutze daher die optimistische Phase, um für mich einen neuen Weg zu erschließen. Um zu zeigen, dass ich nicht auf sehend oder nicht sehend reduziert werden will.
Robert